Hüseyin Çiçek kommentiert: Von der schwachen Demokratie in die personalisierte Autokratie
Dr. Hüseyin Çiçek, Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am EZIRE, kommentiert auf derStandart.at die politische Macht des türkischen Präsidenten Erdoğan und die Frage, ob dieser versuchen wird, die ultrarechten Parteien MHP und Iyi Parti zu einen. Die Herausforderungen des türkisch-politischen Systems mit der Demokratie seien keineswegs neu, dennoch müsse man ausleuchten, was Präsident Erdoğan gelungen ist, damit die gegenwärtigen Entwicklungen nicht als Systemschwächen einer Demokratie zweiten Grades verbucht würden.
Gegenwärtig vereine der türkische Präsident alle Macht in sich und bekleide staatstragend Ämter, die er ohne Einschränkung ausübe. Das Präsidialsystem ermögliche es Erdoğan, die für eine Demokratie wichtigen „checks and balances“ völlig auszulagern. So könne er nach Belieben Macht sowie Willkür ausüben, wie es in den vergangenen Monaten und Wochen intensiv betrieben wurde. Wichtige Positionen innerhalb der Judikative und des Militärs wurden mit AKP-Sympathisanten besetzt, akademische oder zivilgesellschaftliche Persönlichkeiten, die die genannten Institutionen vor einer demokratiefeindlichen Übernahme bewahren wollten, wurden bereits zu Hunderten verhaftet, so Çiçek.
Çiçek erklärt, Erdoğans politische Macht unterscheide sich von der seiner Vorgänger dadurch, dass er mehr als alle anderen die politische oder soziale Balance innerhalb der Gesellschaft von seinen persönlichen Weltanschauungen abhängig machen könne. Das heutige schwache Vorhandensein eines Ordnungssystems auf internationaler Ebene eröffne Erdoğan neue Spielräume. Zum Gelingen seiner personalisierten Autokratie sei jedoch das Internationale nur bedingt wichtig, vielmehr seien es die strategisch gut überlegten innenpolitischen Schritte des türkischen Präsidenten, in der Tradition autoritärer (fast schon totalitärer) Parteiführer, mit welchen er ehemals einflussreiche Parteigründer oder Kritiker in der AKP ins politische Nirwana katapultieren konnte. Er sei somit nicht mehr „einer unter Gleichen“, sondern vielmehr das neue politische System der Türkei. Anders gesagt: Nach einer kritischen Stimme in der AKP zu suchen ist derzeit wie unter Wasser atmen zu wollen.
Für die Opposition seien dies harte Zeiten, bereits im Verlauf des Wahlkampfes sei die personalisierte Autokratie mit Händen zu greifen gewesen. Die Opposition wurde daran gehindert, öffentlich-rechtliche Fernseh- und Radioauftritte zu absolvieren und dadurch Wähler zu mobilisieren, private Sender verzichteten ganz darauf, der politischen Gegnerschaft Erdoğans das Wort beziehungsweise Bild zu überlassen. Man legitimierte die erschwerten Wahlbedingungen im Südosten der Türkei als sicherheitspolitische Maßnahmen, Hindernisse während der Wahl sowie die unzähligen Vorwürfe des Wahlbetrugs wurden von der AKP schon im Voraus als geplante oppositionelle Strategien der Bewältigung ihrer bevorstehenden politischen Niederlage inszeniert. Die neue Machtfülle werde Präsident Erdoğan nicht zur Vereinigung seines durch ethnische und politische Konflikte gespaltenen Landes nützen, sondern vielmehr zur weiteren Eskalation, damit alle Opposition gegen ihn scheiterte, so Çiçek.
Interessant werde in den kommenden Monaten sein, ob Erdoğan einen Versuch unternehme, die beiden ultrarechten Parteien MHP und Iyi Parti, die sich von Ersterer abgespalten hat, zu vereinen. Ihre politischen Ansichten mit Blick auf Minderheiten, Menschenrechte und Demokratie unterschieden sich wenig voneinander, die Stimmen beider Parteien zusammengenommen ergäben 20 Prozent für die Ultrarechten. Für beide gebe es nur eine militärische Lösung in der Kurdenfrage, beide stünden militärischen Abenteuern in Syrien positiv gegenüber und seien auch sie keineswegs zurückhaltend, wenn es darum ginge, im sicherheitspolitischen Interesse des Staates Bürgerrechte zu begrenzen oder demokratische Institutionen zu schwächen. Die wirtschaftlichen Herausforderungen würden Erdoğan nur bedingt in seiner personalisierten politischen, autokratischen Agenda aufhalten, vielmehr könne er nun durch noch mehr willkürliches, rätselhaftes oder bedrohliches Vorgehen seine Vorstellung von Herrschaft realisieren und von realen politischen Abgründen ablenken.