Zwischen Juden und Muslimen. Eine europäische Familiengeschichte (1836 – 2016)
Die neue Publikation von Gerdien Jonker, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE), erzählt die Geschichte der Oettingers, einer preußisch-jüdischen Familie aus Posen. 1836 als deutsche Bürger anerkannt, wandelten sich die Mitglieder von preußischen Juden zu deutschen Patrioten, die ihre Treue zum deutschen Reich durch die Taufe ihrer Kinder unter Beweis stellten. Aus Patrioten wurden alsbald überzeugte Lebensreformer, die danach strebten, ihren Alltag mit neuer Bedeutung aufzuladen. Es waren die Frauen der Familie, Emilia Oettinger und ihre Töchter Lisa und Susanna, die sich in der Zwischenkriegszeit einer muslimischen Avantgarde anschlossen, mit dem Ziel, einer globalen Weltkultur anzugehören, Kosmopoliten zu werden, wie man damals sagte. Krieg und Verfolgung bildeten zwar auch für sie eine existentielle Zäsur. Sie überlebten dennoch, emigrierten nach dem Krieg nach England und knüpften dort wieder an muslimische Netzwerke an. Für ihre Kinder stand der Islam im Mittelpunkt, bis auch sie die Konversion als Mittel zur Veränderung ins Auge fassten.
Die Geschichte der Familie Oettinger steht nicht für sich allein. Um 1900 liebäugelten viele deutsch-jüdische Familien mit östlichen Philosophien und Religionen, so wie es auch christliche Familien gab, die eher von religiösen Alternativen angezogen waren als sich von überholten Kirchenstrukturen leiten zu lassen. Die Lebensreform bot die Drehscheibe, mit deren Hilfe so manche deutsche Familie eine gänzlich neue Richtung einschlug. In der Zwischenkriegszeit experimentierte die nächste Generation bereits mit Varianten „östlicher Weisheit“, einem europäischen Wahrnehmungsmuster, das Missionaren der Hindus, Buddhisten, Bahai und Muslime in Europa den Weg ebnete. Indem es diesen Kontext hebt, macht das Buch die Anfänge einer religiösen Individualisierung sichtbar, die bis heute ihre Spuren hinterlassen hat.
1901 schart der indische Reformer Mirza Ghulam Ahmad seine Getreuen für ein Foto um sich, das demonstrieren soll, was die Ahmadiyya unter „modern“ versteht. Es handelt um nichts weniger als die richtige Gewichtung zwischen indigenem und westlichem Wissen. Der Turban steht für die indisch-muslimische Aristokratie und damit für die Anbindung an die Tradition. Persische Literatur rangiert darin vor Arabischkenntnissen. Der wahre Gentleman beschäftigt sich mit der Kunst des persischen Ghazals, weniger mit der Auslegung von Koranversen. Der Fez steht für die Aufgeschlossenheit gegenüber den „Westen“. Er gilt als westliche Kopfbedeckung schlechthin. Seine Träger haben bereits an englischen Universitäten studiert und beherrschen sowohl die „alten“ als die „neuen“ Wissenschaften. Der Koran in vielen Händen weist daraufhin, dass sie als Missionar ausgebildet werden. Wenige Jahre später sollen sie in Europa als die Vertreter eines „modernen“, dem Fortschritt aufgeschlossenen Islam mit Interesse empfangen werden.
1928 schreibt sich Sheikh Muhammad Abdullah an der Berliner Universität ein mit dem Ziel, sein Physikstudium mit einer Dissertation abzuschließen. Die Ahmadiyya Gemeinschaft in Lahore hat inzwischen in Berlin eine Moschee errichtet und ihn als Missionar für die schnell wachsende Gemeinde bestimmt. Das Foto hält seine erste Begegnung mit der jüdischen Familie Oettinger fest. Susanna Oettinger (rechts) unterrichtet Deutsch. Lisa Oettinger (links) ist Studentin an der Kunstakademie. Die Begegnung, hier noch von großer Verlegenheit geprägt, wird ihr aller Leben eine neue Richtung geben.
1930 wird die Mutter der beiden Mädchen, Emilia Oettinger, Mitbegründerin der Deutsch-Moslemische Gesellschaft e.V. werden und darin die Frauen vertreten. Das Foto wurde am Tag der Gründung gemacht. Neben ihr sitzt Hugo Marcus, Präsident der Gesellschaft, Philosoph, Jude und Homosexueller, der bereits 1925 zum Islam konvertiert ist. Er vertritt die Intellektuellen. Neben ihm sitzt S.M. Abdullah, von Beruf Missionar. Hinter diesen dreien erblicken wir die vier Personen, welche die vier wichtigsten Interessengruppen in die Moscheegemeinde einbinden sollten. Erstens ist da Dr. A. Mansur, ein ägyptischer Arzt, der die Nicht-Ahmadiyya-Muslime in der Moschee vertritt. Neben Dr. Mansur steht G. Gutzkow, Vertreter der relativ großen Gruppe preußischer Adliger und ehemaliger Offiziere. Der preußische Adel bildet eine eigene Gruppe in der Gesellschaft, die ein militärisches Interesse an dem Islam zeigt und diese Sichtweise vom Ersten bis in den Zweiten Weltkrieg tragen wird. Auf Gutzkow folgt M.T. Ahmad, der Schatzmeister. Ahmad ist zu dieser Zeit noch Student der Medizin an der Berliner Universität. Seine Kopfbedeckung verrät seine Zugehörigkeit zur besitzenden indischen Klasse. Schließlich treffen wir am rechten Rand des Bildes auf Werner Omar Schubert, der bereits vor 1930 Mitglied der NSDAP geworden ist. In der Gesellschaft wird er diejenigen vertreten, die dem Nationalsozialismus das Wort reden. Diese bunte Mischung wird in den folgenden zehn Jahren bestimmen, wie der Islam in Berlin sich entwickelt und von anderen wahrgenommen wird.
1933 konvertiert Lisa Oettinger als erste der Familie zum Islam. Ihre Mutter und Schwester werden den Schritt erst später machen. Aus den nachgelassenen Papieren geht hervor, dass sie ernst macht. Handgeschriebene Gebete, Sufi Poesie und eine Auswahl deutscher Lebensreformer, die neue Wege in die Religion anzubahnen versuchten, demonstrieren, dass es ihr nicht so sehr um die Lebensführung denn um die Annäherung des göttlichen Mysteriums (mysterium tremendum) und damit um eine ganz persönliche Erfahrung geht.
Zwischen Juden und Muslimen stützt sich auf den Nachlass der Familie Oettinger, eine mit Anweisungen versehene Sammlung von Gegenständen, Dokumenten und Fotos, die von den Nachkommen bis heute wie in einem Schrein verwahrt wird. Ihre Entdeckung erlaubte es, die Entscheidungen von sieben aufeinanderfolgenden Generationen zu rekonstruieren, die Schlagworte, wie Reform, Moderne und Fortschritt in religiöse Individualisierung, umzumünzen versuchten. Zum Vorschein kam ein Kapitel europäischer Religionsgeschichte im Kaleidoskop eines Familiengedächtnisses.