Macht und Ressourcen – Hüseyin Çiçek kommentiert das kurdische Referendum im Irak
Seit Beginn des Arabischen Frühlings ist klar, dass die Grenzen im Nahen Osten neu gezogen werden. Der Kampf um Macht und Ressourcen bestimmt auch das kurdische Referendum um Unabhängigkeit im Irak. Hüseyin Çiçek kommentiert die Hintergründe der Abstimmung in der Neuen Zürcher Zeitung.
Für Çiçek, Religionspolitologe, Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am EZIRE, ist der Wunsch der irakischen Kurden nach Unabhängigkeit absolut verständlich. Die weltweit größte Minderheit ohne eigenen Staat sei in den sie beherbergenden Staaten immer wieder Opfer von Repression sowie politischer, wirtschaftlicher und kultureller Exklusion gewesen. Im Irak habe Saddam Hussein sogar versucht, die Kurden durch den Einsatz chemischer und biologischer Waffen zu politischem Gehorsam zu zwingen.
Gleichzeitig seien die Kurden im heutigen Irak eine starke politische Kraft. So sei z. B. der derzeitige irakische Staatspräsident, Fuad Masum, Kurde. Daneben sei von 2003 bis 2015 das irakische Militär von dem Kurden Babaker Zebari geleitet worden. Der Nordirak werde sogar komplett von zwei kurdischen Parteien regiert, die sich die Macht teilten. Die aktuelle Forderung nach Unabhängigkeit könne also in Hinsicht auf die politische Machtverteilung im Irak zunächst überraschen.
Laut Çiçek erklären zwei Faktoren das derzeitige Streben nach Unabhängigkeit: Zunächst versuche der derzeitige Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, Masud Barzani, durch das Referendum seine eigene Macht auszuweiten. Er erhoffe sich durch das Referendum eine erhöhte Popularität. Gleichzeitig könne er so die Handlungsunfähigkeit der Zentralregierung in Bagdad aufzeigen. Dabei sei jedoch nicht zu unterschätzen, dass auch die irakischen Kurden gespalten seien und nicht alle einem Referendum positiv gegenüberständen.
Ein weiterer Faktor, der das jetzige Referendum erkläre, sei, so Çiçek, die Instabilität der gesamten Nahostregion als Folge des Arabischen Frühlings. Da die Kurden sich im Kampf gegen das Terrorregime des sogenannten Islamischen Staates als starker Akteur erwiesen hätten, sähen sie die Möglichkeit, die regionale Neuordnung des Nahen Ostens durch neue Grenzziehungen mitzugestalten.
Çiçek sieht die Erfolgschancen der Unabhängigkeitsbemühungen der Kurden jedoch als gering an: In Zeiten der Instabilität würden die existierenden Nationalstaaten neue Akteure im Kampf um Macht und Ressourcen nicht ohne weiteres dulden. Der kurdische Traum nach Unabhängigkeit könne sich so rasch in einen Albtraum verwandeln.