Pressespiegel: Wohin steuert die Türkei?

Türkeiflagge wehend im Wind
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Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei, deren Höhepunkt das Verfassungsreferendum über die Einführung eines Präsidialsystems vergangenen Sonntag war, irritieren derzeit die westliche Staatengemeinschaft. Viele befürchten, dass das Land in eine Diktatur abdriftet. Wohin steuert die Türkei? Und welche Rolle spielt dabei der Islam? Hüseyin Çiçek, wissenschaftlicher Mitarbeiter am EZIRE, hat sich in diversen Beiträgen für Funk und Fernsehen mit diesen Fragen beschäftigt.

Im Interview mit Radio Liechtenstein stellt Çiçek nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei fest: „Die derzeitige Entwicklung der Türkei ist alles andere als in Richtung Demokratie.“ Er stellt dabei mehrere Faktoren heraus, die die aktuellen Entwicklungen in der Türkei begünstigt hätten: Die staatlich verordnete Verwaltung des sunnitischen Islams, welche laut Çiçek seit der Staatsgründung ein Kennzeichen des türkischen Laizismusmodells gewesen sei, sei seit ihrem Regierungsbeginn von der AKP strategisch genutzt worden. Diese, so Çiçek in einem Kommentar in der österreichischen Zeitung Die Furche, habe es verstanden, islamisch-konservative Politik und Laizismus miteinander zu verbinden. Sie habe die kemalistische Homogenisierungspolitik mit dem Ziel einer starken, nationalen Einheit fortgeführt. Gleichzeitig betreibe die AKP aber eine konservative Politik in Anlehnung an den sunnitischen Islam, nach dem Motto: „Der Staat ist laizistisch, die Subjekte sind es nicht“. Anfangs sei es unter Erdogan und der AKP durchaus zu Demokratisierungsprozessen gekommen. Doch spätestens mit Ausbruch des „Arabischen Frühlings“ 2010 und den massiven regionalen Umbrüchen sei deutlich geworden, wie instabil die türkische Demokratie sei: Das türkische Laizismusmodell, welches auf Homogenisierung abziele, sei letztlich mit pluralistischer Demokratie unvereinbar. Dies zeige sich an der in allen politischen Lagern verbreiteten Angst vor einer gesellschaftlichen Zersplitterung und der territorialen Auflösung der Türkei. Das türkische Laizismus-Konzept, mit dem sunnitischen Islam im Zentrum, begünstigt laut Çiçek somit dezidiert autoritäre Einhegungen demokratischer Errungenschaften.

Als weiteren Faktor für die gegenwärtigen Eskalationen hebt Çiçek den Einfluss türkischer Organisationen im europäischen Ausland hervor: In einem Gastkommentar für die Neue Zürcher Zeitung zeigt er auf, wie unter der Führung der AKP ein Organisationsgeflecht aus verschiedenen türkischen Diaspora-Organisationen türkische Innenpolitik in andere Staaten tragen könne. Das Präsidium für Auslandtürken und verwandte Gemeinschaften (YTATB/YTB) vereine, so Çiçek, türkische Nationalisten und Islamisten unter einem Dach. Deren Vertreter fungierten als politische Schnittstelle zwischen Ankara und türkischen Organisationen im europäischen Ausland. Bei der Union europäisch-türkischer Demokraten (UETD) handele sich es um einen politischen Arm der AKP in Europa. Von ihr seien die meisten Einladungen an türkische Politiker ausgegangen, welche im Vorfeld des Referendums in Wahlkampfauftritten die in Europa lebenden Türken zu einem „Ja“ bewegen wollten. Das Diyanet, das türkische Präsidium für Religionsangelegenheiten, unterhalte derweil mehrere hundert Moscheen in Europa. Ursprünglich sei die Organisation eingesetzt worden, um die Predigten in Moscheen zu kontrollieren und so Radikalisierungsprozessen in Europa vorzubeugen. Doch mittlerweile stehe das Diyanet in westlichen Gesellschaften selbst in der Kritik: Der DITIB, ihrem Ableger in Deutschland, werde vorgeworfen, für den türkischen Geheimdienst und die AKP Gemeindemitglieder bespitzelt zu haben. Die anderen türkischen Diaspora-Organisationen versuchten unter Leitung der AKP, die Türken in der Diaspora von der Haltlosigkeit der Vorwürfe zu überzeugen. Laut Çiçek werde an diesem Beispiel deutlich, wie leicht türkische Innenpolitik derzeit in europäische Länder getragen werden könne. Im Verhalten gegenüber europäischen Staaten sei – im Gegensatz zu früheren türkischen Regierungen – der Wille der AKP auffällig, durch eskalierende politische Konfrontationen eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbeizuführen.

Und wie geht es bei all dem den Türken in Deutschland? Çiçek sagt im Interview mit der Nürnberger Zeitung: „Die Situation ist hoch emotional.“ In der türkischen Diaspora-Gesellschaft herrsche ein großes Interesse an dem, was in der Türkei passiere – was jedoch keinem Desinteresse an Deutschland gleichkomme. Es gäbe verschiedene Gründe, warum sich die Leute derzeit stark für die Türkei einsetzten, so z. B. den gescheiterten Militärputsch oder insbesondere die Syrienkrise. Aus dem Gefühl heraus, dass die Türkei gerade vor großen politischen Herausforderungen stünde, wünschten sich viele einen starken Mann an der Macht.